Hinterher sei man immer klüger, heißt es. Doch nur selten, weil es an Hinweisen vorab fehlte. Eher weil Informationen erst nach einer Eskalation ernstgenommen werden. Dann nämlich fängt das rückblickende Orakeln an, was wohl die Ursachen waren. Und siehe: Hinweise gab es in Hülle und Fülle. Nur wurden sie ignoriert oder relativiert. Das gilt für Konflikte wie für Diebstähle und Übergriffe, aber auch Belästigungen und Burnout. Fragt sich also, warum es hat keiner kommen sehen, wenn es doch so gut sichtbar war?
Die erste Antwort ist leider ganz leicht: Weil es keiner sehen wollte. Es ist das alte Spiel „Des Kaisers neue Kleider“. Die zweite Antwort hingegen ist schwieriger: Es zu sehen erfordert Mut, Anmaßung, Frechheit und Konfliktfreudigkeit. Es zu sehen bringt auch ein Sperrfeuer von Widerständen der Umwelt mit sich. Man wird belehrt: „Das kannst Du doch nicht sagen!“ und relativiert: „Ach, so schlimm ist das nun ja auch wieder nicht!“; man wird besänftigt: „Nun sei doch nicht so!“ und man wird auch konfrontiert: „Du malst aber auch immer den Teufel an die Wand!“. Das Schlimmste ist aber, dass frühzeitiges Handeln den Schaden verhindert und die Umwelt dann sagt: „Na siehst Du: Da war doch gar nichts.“ Mit der selben Logik müsste man das Zähneputzen sein lassen, denn sie sind doch gesund.
Dass Missstände keiner sehen will, ist ein alter Hut der Präventionsforschung. Wer also Informationen frühzeitig wahr und ernst nimmt, wird zum Schweigen erzogen. Das hat zwei Komponenten. Erstens scheint jemand, der Hinweise sieht und anspricht, den Betriebsfrieden und die geregelten Prozesse zu stören. Man müsste den Problemen teilweise investigativ nachgehen und all den Dreck unterm Teppich hervorkehren. Zweitens fehlt dafür meistens der Leidensdruck. Ist das Kind hingegen erst einmal in den Brunnen gefallen, mobilisieren die Beteiligten rasch ihre Ressourcen. Es lohnt sich also Strategien zu entwickeln, um nicht als Schwarzmaler, Störenfried oder Querulant dazustehen.
Ein kluges Vorgehen zeichnet sich durch Unaufgeregtheit aus. Eine Schwalbe macht keinen Sommer, ein Hinweis noch kein Problem. Wohl aber ein zweiter, ein dritter oder vierter Hinweis. Doch den vierten sieht man erst, wenn man auch die drei davor gesehen hat. Informationen frühzeitig ernst zu nehmen, hilft vor allem weitere Hinweise erkennen oder aber auch seinen eigenen Irrtum einzugestehen. Also gilt es erst einmal, die eigene Wahrnehmung zu schärfen und Hinweise zu sammeln. Je mehr Informationen man hat, desto leichter lassen sich Dritte über die Problemlage in Kenntnis setzen.
In einem nächsten Schritt gilt es, eine maßvolle Öffentlichkeit herzustellen. Ausdrücklich ist keine breite Öffentlichkeit gemeint, sondern ganz klein und verhältnismäßig: Das können der Verursacher als auch die Kollegen oder die Vorgesetzten sein. Gut eignet sich die Formel der Selbstvergewisserung: „Hast Du das auch bemerkt?“ Auch ein schriftlicher Vermerk für sich oder Dritte fällt unter diese Rubrik, insbesondere wenn ein Personalwechsel ansteht und der Nachfolger bei Null anfängt. Mit etwas Fingerspitzengefühl geht der Hinweis auch direkt an den Verursacher. Überraschend viele reagieren erleichtert, dass sie in ihrer Not gesehen wurden. Ebenso häufig wird die Ansprache und ‚Veröffentlichung‘ aber auch mit Aggression beantwortet. In diesem Fall ist eine offene Ansprache innerhalb des Teams zwar sinnvoll, aber leider nur selten erfolgreich. Aber man hat sein Mögliches getan und festgehalten, dass dieser Kaiser immernoch nackt ist.