Die Ereignisse der Kölner Sylvesternacht und die darauf folgende Debatte sind nicht nur Anlass zur Sorge sondern auch eine Chance, sich wissenschaftlich fundiert mit dem Thema Flüchtlingskriminalität auseinanderzusetzen. Dieses Vorgehen nennt sich evidenzbasierte Forschung, die ein enormes Potential für die politische Entscheidungsfindung bereithält. Vielleicht von der Berichtswelle zur Silvesternacht zur Eile angetrieben, erschien im Januar 2016 „SOKO Asyl“ mit genau diesem Anspruch.
Verfasst wurde das Buch von Ulf Küch und Mitgliedern der Braunschweiger Kriminalpolizei, die zu dem Zeitpunkt bereits etwa ein Jahr in einer Sonderkommission die Ermittlungen zur Flüchtlingskriminalität bündelten und bearbeiteten. Leider merkt man dem Buch jedoch deutlich an, dass es schnell geschrieben wurde. Es wirkt, als sei es unter dem Druck der Ereignisse schnell veröffentlicht worden. So liest man mehr als nur eine Referenz auf die Vorkommnisse und die öffentliche Meinungsentwicklung im Januar 2016.
Der Stil ist betont informell. So gehen die Beschreibung der Tätigkeit und Ergebnisse der Sonderkommission zum Teil in persönliche Einschätzungen und Meinungen über. Außerdem kommen unterschiedliche Mitarbeiter der Sonderkommission zu Wort, die sich in ihrer Perspektive kaum unterscheiden. In der Folge kommt es zu vielen Wiederholungen. All das macht das Buch sehr unübersichtlich und schwer lesbar. Wer sich durchkämpft, erfährt zwischendurch einiges über die Hintergründe der kriminalpolizeilichen Arbeit und über ungewollte Nebenwirkungen von Maßnahmen, die sich ursprünglich gegen institutionelle Diskriminierung richten.
Für ein Urteil über die quantitative und qualitative Analyse der Sonderkommission bietet das Buch leider keine Grundlage. Bei aller Möglichkeit zur Verbesserung bleibt die Einrichtung dieser Sonderkommission eine von wenigen frühzeitigen Maßnahmen um die Situation besser zu verstehen und zukünftige Handlungen auf ein besseres Fundament stellen zu können. Damit ist sie ganz klar ein Praxisbeispiel für einen ersten Schritt in Richtung Evidenzbasierung. Aber was heißt das und wie gut gelingt das in diesem Fall?
Evidenzbasierung steht für die Berücksichtigung und Nutzung möglichst hochwertiger und vollständiger Informationen, die nach wissenschaftlichen Standards zur Beantwortung einer definierten Fragestellung genutzt werden. Entstanden ist das Konzept ursprünglich in der Humanmedizin. Mittlerweile kommt es ebenfalls in der empirischen Bildungsforschung vor. Das Prinzip ist grundsätzlich auf viele Bereiche übertragbar.
Die Grundidee wurde verwirklicht: Die Fragestellung, ob vermehrt Kriminaldelikte durch Menschen, die in Deutschland Asyl beantragen, zu beobachten sind, wurde nach eigener Aussage ergebnisoffen durch die SOKO behandelt. Sie hat alle wichtigen Informationen gesammelt, gebündelt und mindestens im Ansatz ausgewertet. Insbesondere die Bündelung aller durch vermutlich Geflüchtete begangene Straftaten unabhängig vom Delikt erbrachte diverse Vorteile und neue Erkenntnisse zur oben genannten Frage. So konnten besonders kriminell aktive Einzelpersonen schnell identifiziert werden und es konnte untersucht werden, ob diese in größere Strukturen eingebunden sind. Das Hauptergebnis lautete, dass nur ein sehr kleiner Teil und darunter kaum syrische Geflüchtete, für einen Großteil der vermehrt auftretenden Diebstähle verantwortlich war. Darüber hinaus brachte die neue Struktur eine große Zeitersparnis mit sich und Erkenntnisse darüber, welche organisatorischen Voraussetzungen für eine gezieltere Bearbeitung geschaffen werden müssten.
Wie ist nun das in „SOKO Asyl“ beschriebene Vorgehen der Braunschweiger Polizei in dieser Hinsicht einzuordnen? Einerseits ist die Einführung der Sonderkommission reine Reorganisation und Mittel zum Zwecke des Informationsmanagement. Andererseits wurden so die Voraussetzungen geschaffen, um die genannte Fragestellung zu beantworten. Leider wurden diese Voraussetzungen nicht genutzt, da die Daten nicht wissenschaftlich fundiert analysiert wurden. Die Mitarbeiter der Kommission sind zwar Experten für Kriminalfälle, nicht jedoch für Statistik. So wurde zum Beispiel angedeutet, dass mehr Delikte zu erwarten sind, wo mehr Menschen sind. Diese Erwartung können Statistiker in Zahlen ausdrücken, sodass das Ergebnis trotzdem vergleichbar bleibt. Abhilfe könnte entweder die Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Experten oder die gezielte Schulung der Beamten schaffen.
Die Stärke wissenschaftlich fundierter Evaluationen besteht in ihrer Ergebnisoffenheit. Gleichzeitig ist dies vermutlich ihre größte Schwäche. Damit eignen sich diese Ansätze zwar neben weiteren Quellen für die interne Entscheidungsfindung, nicht jedoch als Marketinginstrument. Geheimhaltung ist im Zeitalter der Transparenz allerdings keine wirkliche Option. Der Einsatz von ergebnisoffener Evaluation erfordert daher von Seiten der Entscheidungsträger Mut zu Fehlern und Mut zum Lernen – und von der Öffentlichkeit eine höhere Toleranz für Fehler. Die Kombination ist leider selten anzutreffen.