Offenkundig verändert das Internet einiges. Aber präzise zu sagen, was es verändert, ist überraschend schwer. Manch vermeintlich Neues gab es ja auch schon früher: Fake-News und Berichterstattung – man denke nur an Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Wesentliche Untersuchungen über die modernen Kommunikations- und Informationstechnologien stammen schon aus den 1960er Jahren. Sie lesen sich, als ob sie das Internet beschreiben. Was also ist wirklich neu?
Privilegien der Schrift für das Bewegtbild
Offenkundig neu scheinen die social media zu sein, die soziale Evolution von Medien. Nicht länger liefert eine Redaktion Inhalte für die breite Masse, sondern die breite Masse produziert Inhalte für die breite Masse. „Produser“ wurde das getauft, die Synthese von Producer und User. Alle social media lebt von dieser individualisierten Traumfabrik, man schaue sich nur youtube an. Weniger offenkundig ist aber das Element, das dieser Entwicklung zugrunde liegt: Die Serienreife der audiovisuellen Techniken. Die eigentliche Innovation findet sich in der nahezu kostenneutralen Herstellung von Video und Audio. Bis dato war das ein Privileg der Schrift.
Der Wert des Schreibens
Lassen Sie uns kurz innehalten, um die Bedeutung in Ruhe zu erfassen. Bis vor 20 Jahren gab es nur sehr begrenzte Möglichkeiten, das eigene Denken jemand anderen zugänglich zu machen. Der Klassiker war es, einen Brief zu schreiben. Mit E-Mails hat sich das bis heute gehalten. Eine alte Philosophenweisheit dazu lautet: Man weiß nicht was man denkt, bis man es aufschreibt. Genau das macht das Schreiben aber äußerst anstrengend. Die Gedanken sind nur so schnell, wie man tippen kann. Man muss genau nachdenken, was man schreiben möchte. Und jemand anderes muss es dann auch noch lesen, was zwar einfach anmutet, aber eine nicht zu unterschätzende Anstrengung bedeutet. Nicht umsonst ist die Schrift das Mittel der Gelehrten, wer viel liest und wer viel schreibt, wird klüger.
Neue Möglichkeiten des Ausdrucks für Jeden
Auch das Diktieren war nur ein Zwischenschritt der Schrift. Erst Radio und Fernsehen brachten Alternativen ins Spiel, um die eigenen Gedanken zu transportieren. Aber diese standen nur einigen, sehr wenigen offen. So eben wie im Mittelalter auch, wo das Schreiben nur wenigen möglich war und noch weniger sich dann auch noch Pergament, Papier und Tinte leisten konnten. Erst mit der Entwicklung der Digitalkamera veränderte sich das Spiel. Nicht länger waren es Profis, die viele Bilder machten. Laien waren ebenso dazu in der Lage und vorallem konnte nun auch Unwichtiges fotografiert werden. Selfies sind da nur die logische Konsequenz einer langen Reihe.
Video hat mehr Sexappeal als Audio
Richtig Schwung kam jedoch in die Sache, als Digitalkameras nicht nur Fotos, sondern auch Videos machen konnten. Interessanterweise hatte nämlich niemand Lust, sich wie beim Radio aufzunehmen und Tonspuren ins Internet zu stellen. Wohl aber Videos! War youtube anfangs eine Plattform, um vorhandene Videos publik zu machen, lud es unmittelbar dazu ein, selbst Videos zu erstellen – und zu veröffentlichen.
Denkeinheiten des Internets
Die Kombination von Vernetzung und Bildern war die Geburtsstunde der social media. Man kann GIFs und Memes als die kleinsten Denkeinheiten des Internets zu bezeichnen. Eben keine Fotos, sondern kleine, isolierte bewegte oder kommentierte Bilder. Man könnte auch von Metaphern sprechen. Mit den Videos gab es eine Alternative zur Schrift. Man konnte Gedanken festhalten, egal wie komplex oder lang sie waren. Andere konnten ohne Mühe zuschauen. Der aktive Vorgang des Lesens wurde durch den passiven des Zuschauens ersetzt. Videomacher müssen sich genau überlegen, wie und was sie sagen und zeigen wollen. Dann aber konnten sie schlicht alles zeigen, was sie dachten. Und ob jeder Gedanke wahr ist, oder ‚fake‘ ist und damit zu ‚fake-news‘ wird, ist ein bisschen egal.
Das Internet als Außenseite des Denkens
Indem die Entwicklungs- und Bereitstellungskosten für Videos gegen Null fallen, die Speicher- und Energiekosten ebenfalls, wird es zum allverfügbaren Mittel des Denkens. Es scheint sich zu bewahrheiten, dass Menschen grundsätzlich in Bildern denken. Zumindest deutet die Rezeption von Bildmaterial im Internet genau das an. Metaphern sind greifbar geworden, händelbar. Und mit dem Emoticon hat sich eine weitere, von der Sprache autarken, Verständigungsform entwickelt. Mit anderen Worten: Social Media im Speziellen, das Internet im Allgemeinen stellt die Außenseite des Denkens dar.