Vor zwei Jahren hielt Michael Kreil auf dem 34. Chaos Communication Congress einen herausragenden Vortrag über Social Bots. Scharfsinnig analysierte er die medialen und politischen Allgemeinplätze über Bot-Netzwerke und ihrem vermeintlich wahlentscheidenden Einfluss. Am Ende war nichts von dieser Behauptung übrig und es ließ sich trocken zusammenfassen: Es gibt keine Bot-Netzwerke und schon gar keinen Einfluss auf Wahlen durch selbige. An Michael Kreil hervorzuheben ist die wissenschaftliche Methode seines Vorgehens, verknüpft mit einer zeitgleichen Kritik an den pseudo-wissenschaftlichen Behauptungen über Bot-Netzwerke. Von hier an bleibt nur eins, nämlich eine Empfehlung: Anschauen.
Nun hielt Michael Kreil 2019 wieder einen Vortrag. Inspiriert durch die Brillianz des ersten war ein Besuch also Pflicht. Dieses Mal jedoch machte Kreil leider genau das Gegenteil: Er vermied so ziemlich alles, was ihn zwei Jahre zuvor auszeichnete. Stattdessen bewarb er sich öffentlich auf eine Pole-Position im Schnee-Flocken-Diskurs, um sich moralisch als besonders hochwertig auszuzeichnen. Es ging um nichts Geringeres, als besonders guter, weil vorgeblich wissenschaftlicher, Anti-Rassist darzustellen. Gelingen sollte dieser Akt, indem er innerhalb ersten fünf Minuten schlichtweg jede Differenzierung zum Begriff des Rassismus wegdefinierte. Das aber ist leider das exakte Gegenteil von Wissenschaft, deren Aufgabe doch Differenzierung und Katalogisierung bedeutet.
Was ist Kreils Anliegen? Er möchte Ursache-Wirkungsverhältnisse zwischen sozialen Interaktionen, insbesondere innerhalb medialer Interaktionsfelder, auf das Phänomen „Rassismus“ hin untersuchen. Dafür versucht er vorab Rassismus zu definieren und merkt rasch, wie sich der Begriff wie alle sozial-normativen Begriffe der Definition entzieht. Statt sich in der Vorbereitung seines Vortrages dieser echten Schwierigkeit zu widmen, erklärt er kurzerhand und ohne weitere Argumentation jede Form der sozialen Diskriminierung zu Rassismus, bis hin zum Ausspruch „Auch im alten Griechenland …“ Ein solcher Satz zeugt von einer methodischen Blauäugigkeit, was die freundlichste Formulierung für Inkompetenz wäre.
Er verkennt, dass Rassismus ideengeschichtlich ein universelles Konzept von „Menschheit“ voraussetzt – in Abgrenzung zur zeitlich und räumlich lokalen, sozialen Gruppe. Erst eine universelle „Menschheit“ erlaubt die Problematisierung unterschiedlicher Subkategorien. Dieses universelle Konzept aber ist eine späte Erfindung und zynischer Weise eine Folge der gewaltsamen Kolonialisierung Amerikas. Namentlich war es die Schule von Salamanka, eine theologische Tradition Spaniens, welche sich kritisch dem Herrschaftsanspruch der Konquistadoren entgegensetzte. Stattdessen bedient Kreil einen typischen Anachronismus der Laien, indem er ein äußerst voraussetzungsstarkes und spätes geisteswissenschaftliches, westliches Konzept historisch, zeitlich und global universal voraussetzt. Wissenschaftlich könnte man beispielsweise auch fragen: Welche Funktion erfüllt Rassismus? Und käme auf die Analyse von Identitäten, Identitätspolitik, Gruppentheorie und derlei mehr.
Kreil aber zieht sich auf ein einziges Kriterium zurück, dem moralischen, und erklärt es für absolut. Er setzt die Moral an die Stelle der Wissenschaft, also das Urteil anstelle des Diskurses. So intensiv er sich um die Unterscheidung von Ursache-Wirkung bemüht, so wenig ausgeprägt ist sein Sinn für den Unterschied von normativ-deskriptiv. Beide vermengt er, indem er sich unter dem Mantel seines deskriptiven Wissenschaftlichkeitsanspruches dann heftige normative Aussagen bemüht.
Kreil hob also alle Differenzierung auf. Dann packte er ein normatives und zugleich moralisches Urteil auf jede Form der sozialen Zuordnung, wodurch er im Vorbeigehen die gesamte Soziologie abschaffte. Im verbleibenden Vortrag wurde diese Art von Verallgemeinerung in die Breite entfaltet. Bar jeder Methode, jedes Kontextes und jeder Systematik wandte er seine vorab erfolgreiche deskriptive Methode auf ein normatives Feld an. Mit dem Gewand der objektiv-neutralen Wissenschaft urteilt er aus der Kanzel der erhobenen Beobachterperspektive über seine soziale Umwelt, wodurch er sich gleichzeitig als moralische Institution inszeniert und sich selbst als Richter vorschlägt. Eine Art Sarrazin mit umgekehrtem Vorzeichen, in jedem Fall unglücklich.
Mit anderen Worten: Kreil wechselte von der analytischen Perspektive zur programmatischen Belehrung, die für das erwünschte Ziel alle Methode zurechtbiegt. Er agiert nicht länger aufklärend, analytisch und reflexiv, sondern normativ, moralisch, belehrend. Ein solcher Kurswechsel hat in der Regel nur eine Funktion, nämlich eine Selbstvergewisserung, zu den Guten zu gehören. Da möchte jemand sicherheitshalber auf der richtigen Seite verortet werden.
Warum tut man so etwas? Warum, wenn man vorab so deutlich seine Kompetenz und Qualität doch präsentiert hat? Die Vermutung drängt sich auf, es ging ihm um eine contritio, die Zerknirschte Reue eines Sünders, der seine Sünden reflektiert und durch Demut, Introspektion und Kasteiung versucht, sich wieder rein zu machen. Oder das soziale Umfeld, dem er entstammt – man weiß es nicht.
Kreil knüpft nahtlos an der Reduktion der diskursiven Landschaft der Geistes- und Sozialwissenschaften, welche der Formel von Niall Ferguson folgt: „Kolonialist = Rassist = Faschist = Nazi“. Es ist die Inszenierung moralischer Überlegenheit gemäß dem Motto: „Ich klage an, also bin ich geheilt“. So offenbart sich ein zutiefst christlicher Ritus, wo die reuige Selbsterkenntnis zur Voraussetzung jeder Vergebung wird. Der Himmel liebt einen reuigen Sünder mehr, als neunundneunzig gerechte.