Strategie aus der Ausnahme II

Ausnahmesituation bedeutet, die Aufhebung aller Normalität. Alle Planung ist genauso aktuell wie die Zeitung von gestern. Sie bedeutet die Aufhebung aller Verträge und das heißt: Nichts gilt mehr. Mit dem Verlust der Normalität bleibt nur die Realität, wie sie jetzt gerade ist. Sie ist uns noch unvertraut und unbekannt, sie ändert sich täglich. Doch für diese aktuelle Realität braucht es neue Verträge. Sie ist die Grundlage für alle weiteren Schritte. Normalität gibt es nur insoweit, als dass wir an einer selbsterfüllenden Prophezeiung arbeiten: Es wird schon gut werden. Um mich an dieser neuen Realität gut anzuschmiegen, neue Regeln und Verträge aus ihr abzuleiten, muss ich zwingend wissen was ich kann.

Nach der Prüfung des eigenen Standpunktes wird klarer: Was kann ich / können wir? Was will ich / was wollen wir?  Welche Ressourcen sind da? Welche Ressourcen brauchen wir? Wie erwähnt, ist es erstaunlich schwer, sich selbst zu sehen. Deswegen haben wir ja Spiegel erfunden. Für unseren Standpunkt helfen Gespräche, die uns spiegeln: Wie würden andere, Zweite und Dritte diese Fragen für uns beantworten?

Eine große Schwierigkeit liegt darin, dass wir unbemerkt immer wieder die falsche Frage beantworten. Statt der Frage „Was können wir“ kommt die Antwort auf „Was machen wir“? Aber das ist keine Frage des Standpunkts, sondern der Umwelt. Sie beschreibt die Routinen, Verträge und Planungen. Die Tätigkeiten aber sind selbst nur später Ausdruck des Standpunktes, nicht der Standpunkt selbst. Was ich / wir machen ist nur Ausdruck von Routinen, von denen wir gleichzeitig wissen, wie wenig aktuell sie sind: Die Zeitung von gestern.

Der Urgeist des Unternehmerischen ist der Pioniergeist, frontier spirit (Frontgeist), Erforschung und Erschließung des Unbekannten. Ihm entgegensteht das Selbstverständnis von Hobbits: Routine bis in die 6. Mahlzeit des Tages und bloß keine Abenteuer. Die Anpassung an die neue Realität ist die Besinnung auf das eigentlich Unternehmerische: Statt die Prozesse, Termine und Routinen zu managen, muss man jetzt, augenblicklich, gegenwärtig und täglich etwas Unternehmen. Die dafür entscheidende Frage lautet: Was wird jetzt gerade gebraucht? Nicht: was wurde gestern gebraucht und vereinbart.

Schauen wir uns mal ein paar Beispiele an: Die Bekämpfung der Corona-Pandemie funktioniert durch eine radikale Verlangsamung der Gesellschaft. Alles wird langsamer. Die Kosten bleiben hingegen gleich, also wird alles teurer und aufwendiger. Um das zu gewährleisten wird normativ, regulatorisch und polizeilich die Distanz zwischen den Menschen vergrößert: Die Schulen und Restaurants sind geschlossen, Messen und Treffen werden abgesagt, Reisen massiv reduziert.

Wenn alle auf Distanz gehen müssen, gewinnt die Verkürzung von Wegen entscheidend an Bedeutung. Aus dem Weg zur Arbeitszeit wird Homeoffice, der Arbeitsweg wurde radikal verkürzt. Die Kinder gehen nicht zur Schule, also wird die Schule via Video und E-Learning zu den Kindern gebracht. Die fortgeschrittene Digitalisierung macht diese Ausnahme in einer unvorstellbaren Weise erträglicher.

Die Menschen können nicht ins Restaurant gehen, die Gaststätten bleiben leer. Was Gaststätten *können*, ist die Zubereitung von Mahlzeiten. Dazu gehört ein organisierter Einkauf, überhaupt eine große Organisationskompetenz; die gleichzeitige Herstellung von vielen Mahlzeiten, das Managen von vielen gleichzeitigen Wünschen. Was *jetzt* akut gebraucht wird, sind die Versorgung von Menschen; die Lieferungen von Lebensmitteln und Essen. Logistisch ist die Umkehrung die kritische Frage: Wie kommen die Fähigkeiten der Gastronomie jetzt zu den Menschen. Das ist eine Aufgabe, aber eine lösbare. Das wird nicht allen helfen, die eine Gaststätte haben. Weiterentwickelte Lieferdienste wären jetzt gute Sache, hier schiele ich auf die Konzepte von Lieferando & Co. Natürlich müssen die Köche gesund sein, das ist eine zu lösende Aufgabe. Naheliegender aber ist das Naheliegende: Den Wohnblock des Restaurants ablaufen und fragen, wer gerne Mahlzeiten organisiert bekäme. Gerade wenn die Schulen, Kantinen und Cafeterien der Betriebe geschlossen sind. Zentraler Einkauf, professionelle Küche und gut organisierte Essensausgabe.

Weiteres Beispiel:

Die Theater und Museen sind geschlossen. Doch was sie können, ist die Komprimierung, Darstellung, Illustration und Verarbeitung von Wissen für Dritte. Das Darstellen von Dingen. Das trifft auf den enormen Bedarf von Menschen allen Alters, die sich nicht bewegen dürfen. OB man das als E-Learning organisiert, als Synthese mit einem öffentlichen Rundfunk oder die radikale und tägliche Weiterentwicklung der Sendung mit der Maus. Klar wird: Die Kompetenz „Komprimierung von Wissen“ sucht eine neue, aktuelle und akute Anwendung für den Bedarf in der sozialen Distanz und Einsamkeit. Eine lösbare Aufgabe. Social Media helfen, sie sind genau dafür geschaffen: Zustimmungsfähige Inhalte schnellstmöglich zu verbreiten.

Empfehlungen

Was können wir an größeren Ableitungen treffen? Die Erforschung des Standpunkts ist nicht nur das eigene Selbst. Es sind die Netzwerke, Partner, Verbündeten und Familien. Überall wo Verbindlichkeit erwidert wird. Das ist kritisch, denn die Verbindlichkeit ist ein Ausdruck von einem ungeschriebenen Vertrag, der offenkundig von der alten Normalität in die neue Realität hinein Bestand hat. Das wird nicht immer möglich sein, gerade bei Geschäftsbeziehungen. Aber mindestens sollte man bei der Erforschung seiner Position und seines Standpunktes das mit auf dem Schirm haben. Die strategische Empfehlung dazu lautet: Halten Sie Ihre Netzwerke, wo immer es nur irgendwie geht. Die alten Verbindlichkeiten nicht sofort aufzukündigen, sondern mit Maß anzupassen. Das wird nicht immer gehen, doch an überraschend vielen Stellen dann doch. Die gelebte Verbindlichkeit ist aufs Engste mit dem nächsten Punkt verflochten:

Kommunizieren Sie. Intern wie extern. Je mehr, um so besser. Und je klarer, um so besser. Melden Sie sich bei jedefrau und jedermann. Geben Sie ein Lebenszeichen, sagen Sie: Wir wissen es nicht, aber wir sind da und wir wissen, dass Ihr da seid. Geben Sie über sich selbst Auskunft – dann nach der Erforschung ihres Standpunktes, Ihrer Bedürfnisse und Möglichkeit können sie das nun. Drücken Sie den Wunsch aus, verbindlich zu sein und sagen Sie, wo Ihr Standpunkt das erlaubt und wo nicht. Bleiben Sie im Kontakt. Sie können ruhig von sich auf andere schließen, denn so wie es Ihnen geht, geht es allen anderen auch. Die Erforschung des eigenen Standpunkts offenbart auch die Summe an Kontakten, Menschen und Telefonnummern, die wir jetzt anrufen können, um mitzuteilen: Wir könnten das und jenes für Euch tun.  Ganz konkret eine Liste von Menschen erstellen, die jetzt helfen und Kontakte herstellen können. Um neue Verträge zu machen.

Die Kommunikation verkürzt Wege und baut die erzwungene soziale Distanz radikal ab. Für den Erhalt der Verbindlichkeit werden wir an der digitalen Technik nicht mehr vorbeikommen, sie ist ein Glück im Unglück dieser Ausnahmesituation. Halten und pflegen Sie ihre Netzwerke. Denn alles andere verliert an Wert: Die Geldanlagen, die vormalige Planung, die möglichen Profite und Einnahmen. Was bleibt sind die Menschen, Kontakte und Netzwerke, mit denen die neue Realität gemeinsam erschlossen wird.

Wer schon vorab intensiv in die Digitalisierung für viel und noch mehr Geld investierte, hat jetzt enorme Vorteile. Diese Menschen und Organisationen können nahtlos ins Homeoffice, sie haben die Wege schon vorher verkürzt, wo die analoge Welt jetzt voller Barrieren ist. Das ist mehr als nur ein Wettbewerbsvorteil. Es ist eine Adaptionsfähigkeit an eine Ausnahmesituation: Die Digitalisierung erlaubt mit der Verkürzung der Wege die augenblickliche Aktivierung der bestehenden Ressourcen. Insofern man weiß, welche Ressourcen, Fähigkeiten und Möglichkeiten man hat. Erforschen Sie ihren Standpunkt.

Das Risiko in der Ausnahmesituation liegt in der Dynamik eines Nullsummenspiels. Hamsterkäufe sind das Paradebeispiel dafür: Die Sorge, zu wenig zu kriegen führt dazu, anderen zuvorkommen oder etwas wegnehmen zu wollen. Bei Ressourcenknappheit und -Mangel lassen sich Nullsummenspiele häufig nicht vermeiden. Aber diese Knappheit haben wir gerade nicht. Zwar wurden alle Planungen und somit Geschäftsmodelle über Nacht nivelliert. Zeitgleich aber wurden ebenso schlagartig tausendfach neue Bedürfnisse und Notwendigkeiten artikuliert und sichtbar. Erst im Verbund und im verbindlichen Netzwerk erlangt man die Kontakte, Sichtbarkeit und Kompetenzbündel, aktuelle Antworten für die aktuellen Bedürfnisse zu entwickeln und an die richtigen Stellen zu adressieren. Das geht aber nur indem die Netzwerke mit Verbindlichkeit gehalten werden, also über Kommunikation. Krisenbewältigung geht nur in der Kooperation, aber Achtung: Diese muss sich auf das Neue ausrichten, sie darf nicht länger auf die alten Gewohnheiten optimiert sein.

Kommunizieren Sie, Teil 2: Extrapolieren Sie ihre Fähigkeiten, ihre Kompetenz und Ressourcen auf LinkedIn, Twitter und Facebook. Auf www.nachbarschaft.de und Whatsapp. Egal wo, kommunizieren Sie ihre Fähigkeiten. Machen Sie sichtbar, was sie können. Die neue Realität hat schlagartig tausend neue Fragen gestellt und sucht nach Antworten.

Im ersten Teil deutete ich an, wie zentral die Kommunikation in der Krise und Ausnahme ist. Sie entscheidet über die Bewertung und Interpretation der Realität, über den Aggregatzustand der sozialen Systeme: Panik oder Gelassenheit, Verzagen oder Optimismus.

Verkürzen Sie ihre Wege. Werden Sie digital. Oder noch digitaler. Es ist keine Frage, sondern eine Notwendigkeit. Ergänzen Sie die Kommunikation über das Telefon indem Sie twittern.

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