Eigentlich verbinden wir an dieser Stelle Wissenschaftliches mit der Unternehmenswelt. Eigentlich. Denn wenn Handgranaten in Flüchtlingsunterkünfte fliegen, erzwingt dies eine Betrachtung. Es entblößt ein grundlegendes Phänomen, dass auch in fast allen unseren Aufträgen zum Tragen kommt: Eine geradezu phänomenale Inkompetenz im Umgang mit Gefühlen. Vor allem mit den eigenen, aber auch mit den Gefühlen Anderer. Ist das der Preis von 70 Jahren Wohlstand?
Was bedeutet es, das eigene Bedürfnis mit einer Handgranate durchzusetzen? Ganz schlicht: Krieg. Das ist der qualitative Unterschied zu den bisherigen Verbrechen an Flüchtlingsunterkünften, wie Brandstiftungen, die psychologisch auf die Zerstörung der Häuser abzielen. Handgranaten zielen auf „weiche Ziele“, auf Menschen. Der Einsatz von Kriegswaffen offenbart eine neue Qualität der Übergriffe. Sascha Lobos Verzweiflung verstehe ich nur zu gut, er prangert die fehlende Verhältnismäßigkeit an. Doch seine Analyse geht leider nicht über das Gespräch hinaus. Krieg bedeutet, die Abwesenheit von Verträgen, die Aufkündigung der zivilisatorischen Minimalstandards, das Ende des Gespräches. Das ist es, was wir heute in der Blüte der Zivilisation, im 21. Jahrhundert, in einem der fortschrittlichsten und reichsten Länder der Welt erleben.
Wie begründen die Akteure ihr kriegerisches Handeln? Sie sagen, sie fühlen sich bedroht. Aus diesen Leidens- und Handlungsdruck heraus bewegen sie sich. Sie handeln im Affekt, einen unvermittelten Kurzschluss von Gefühl zu Handlung. Es ist das Gegenteil von Zivilisation, von Selbstdisziplinierung, von Gewaltenteilung und von Affektkontrolle. So etwas heißt Barbarei, weil die Akteure die Gerechtigkeit zur Privatsache machen. Weil sie andere Sichtweisen wegsprengen möchten. Von Nicht-Deutschen ausgeführt, nennt man das Terrorismus. Und den haben wir schließlich mit der RAF besiegt.
Wieso fühlt sich jemand bedroht? Wichtiger ist die Tatsache, dass sich jemand bedroht fühlt. Gefühle sind authentisch, weil sie unmittelbar sind. Sie sind nicht rational und brauchen keine Begründung – das unterscheidet sie von Argumenten. Pegida sind besorgte Bürger, weil sie so empfinden. Alle Regeln der guten Kommunikation zwingen uns, das ernst zu nehmen. Zivilisation bedeutet reden, bedeutet Kommunikation. Auch mit Menschen, die man nicht mag. Eine der Grundeinsichten der Diplomatie lautet, dass man eben sogar mit Feinden reden muss. Schon deswegen, weil die einzige Alternative zum Gespräch die Gewalt ist. Aber auch weil es sonst keine Möglichkeit gibt, dass sie irgendwann zu Freunden werden.
Warum führt die gefühlte Bedrohung zu Gewalt? Weil die Kompetenz fehlt, mit den eigenen Gefühlen klar zu kommen. Weil offensichtlich eine Haltung vorliegt, dass die eigenen Gefühle einen zu allem legitimieren. Weil die Akteure von einem Rechtsempfinden und Rechtsanspruch ausgehen, Nachbarschaft, Menschen und das Land als ihr Eigentum zu betrachten, über das man frei verfügen darf. Dieser Anspruch ist schlichtweg falsch. Niemand hat ein Recht auf die Wahl seiner Nachbarn. Wenn man sie nicht erträgt, sollte man umziehen. Wenn man sich über sie ärgert, dann muss man eine Kompetenz für seinen Ärger entwickeln. Gefühle sind ein schlechter Ratgeber für das Handeln. Sie allzu ernst zu nehmen ist ebenso dämlich, wie sie zu ignorieren. Sie sind ein Kompass, sie bieten Orientierung und Informationen. Sie sind ein Faktor von vielen, nicht mehr und nicht weniger.
Erschreckenderweise zeichnet sich unsere Zeit durch die Abwesenheit von Affektkontrollen aus. Christian Stöcker trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er die Automatisierungen der social media als Brandbeschleuniger identifiziert. Es fehlt an Verhältnismäßigkeit schon deswegen, weil konkurrierende Haltungen nicht einmal mehr wahrgenommen werden. Verhältnismäßigkeit bedeutet doch gerade die Vermittlung von Pluralität. Das ist dann Gerechtigkeit unter Vielen.
Kurz: Es fehlt die Kompetenzvermittlung für die eigenen Gefühle. Weiter gefasst, es fehlt ein Umgang mit den eigenen Beschränkungen, Unzulänglichkeiten und Unglücken – altmodisch ausgedrückt Demut. Dafür ist der Staat nicht verantwortlich. Für das eigene Handeln bleibt jeder selbst zuständig. Man sollte nicht Verantwortung mit Ansprüchen verwechseln.
Mich bringt das zu einer weitreichenden Feststellung: Wir beobachten gegenwärtig den Klassenkampf des 21. Jahrhunderts. Wir beobachten, wie ein Bildungspräkariat seinen Unmut über fehlenden Aufstieg auf Fremde projiziert. Wie eine ungebildete Schicht, die man nicht Unterschicht nennen darf, ihrem Ärger mit Gewalt freien Lauf lässt. Das ist Bildungsversagen, aber es ist auch ein Versagen von sozialer Gerechtigkeit. Dieser Frust äußert sich in Occupy und Pegida gleichermaßen. Gemeinsam ist ihnen, dass teilnehmenden Akteure mit ihren Gefühlen denkbar inkompetent umgehen, nämlich unzivilisiert.