Wo bleibt der Mensch?

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Gewiss sind die Städte heute nicht mehr „unwirtlich“, wie der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts noch reklamiert hatte. Aber Globalisierung, Digitalisierung, Migration und demografischer Wandel sind unaufhaltsam und beschleunigen die Transformation der Städte mit atemberaubender Geschwindigkeit.

Die konkreten Menschen und ihre Bedürfnisse bleiben bei dieser Verstädterung nicht selten auf der Strecke. Nicht von ungefähr hatte Lewis Mumford, US-amerikanischer Architekturkritiker und MultiWissenschaftler, gefordert, die Stadt müsse der menschlichen Persönlichkeit gerecht werden. Denn „der Mensch wird so, wie die Stadt ihn macht“, assistiert Mischerlich. Die Stadt und deren Architektur, ihre Infrastruktur, aber auch ihre spezifisch eigene Kultur prägen den Menschen quasi als non-verbale Erzieher.

Der globale Wettbewerb der Mega-Cities

Schauen wir auf die urbanen Realitäten. Rund 30 MegaCities mit jeweils mehr als 10 Millionen Einwohnern gibt es bereits weltweit. Und wöchentlich wächst die Stadtbevölkerung global insgesamt um eine weitere Million Menschen. Allein in China zählt die Zuwanderung vom Land in die Stadt bis zum Jahr 2020 im HundertMillionen-Bereich. „Zudem führen Wachstum der digitalen Wirtschaft und technologischer Fortschritt zu neuen Stadttypen. Diese Prozesse sorgen nicht nur für größere Städte, sondern rütteln auch an deren globaler Hierarchie“, betont Rosemary Feenan, bei JLL, einem globalen Immobiliendienstleister, verantwortlich für den Bereich Global Research. Feenan weiter: „Nach einschlägigen Prognosen werden bis 2030 nur noch vier europäische Großstädte – London, Paris, Moskau und Istanbul – unter den 30 weltweit größten Wirtschaftsstandorten sein. Alle traditionellen Spitzenreiter werden ihre Relevanz, Attraktivität und ihr Ansehen verteidigen müssen. Deutsche Städte sind gefordert, vor diesem Hintergrund ihren urbanen Wandel und dessen Herausforderung konsequent fortzusetzen.“

Urbane Nutzer-Kultur

Die Solidität ökonomischer Fundamentaldaten voraussetzend ergibt sich für die urbane Kultur zumindest in unseren Breitengraden eine eindeutige Fokussierung auf den Nutzer: Der Bewohner einer Stadt muss von der Urbanisierung in all ihren Facetten profitieren. Die Verstädterung hat dem Menschen zu dienen, nicht der Mensch der Verstädterung. Neben den bereits aufgezeigten Aspekten der Verstädterung auf der stadtplanerischen Agenda zwingend sind zwei Komponenten: Eine effiziente Verkehrsinfrastruktur und genügend Wohnraum – am besten fußläufig zu einschlägigen Einkaufs- und Versorgungszentren. Unter Umweltaspekten von herausragender Relevanz erweist sich der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur als Gebot des Tages im Blick auf die Emissionsentlastung einer Stadt. Die Diskussion um Diesel-Fahrverbote ist dabei nur ein marginales Beispiel eines umfassenden Aufgabenkatalogs, der bei den Verantwortlichen die Schreibtische verunziert. Und last, but not least als soziales Mega-Thema wird die Urbanisierung begleitet von der Frage nach „Wohnraum“. Denn dass es in Deutschland zu wenig Wohnungen gibt, ist hinreichend bekannt. Abhilfe tut not. Aber wie?

Generationenübergreifendes Projekt

Neben umfassenden Engagements im konventionellen Bau von Wohnimmobilien bieten sich speziell in der Stadt zum Beispiel bemerkenswerte Möglichkeiten, außeralltägliche Wohnprojekte in Angriff zu nehmen. Als herausragendes Beispiel einer Projektentwicklung dieser Art, allerdings auf dem Land, in Gestalt einer generationenübergreifenden Begegnungs-, Wohnund Lebensinitiative gilt die Gemeinschaft Schloss Tempelhof (www.schloss-tempelhof.de). Projekte dieser Art haben Potential. Nicht nur auf dem Land. Sondern auch und nicht zuletzt in urbaner Umgebung. Denn die Stadt als Kapitale des Kapitals, wie Georg Simmel sie schon vor einem Jahrhundert zu Recht bezeichnet hatte, ist nicht als Gegensatz sondern als Komplement von „Nachhaltigkeit“ zu lesen. Wenn nicht in urbaner Umgebung, wo sonst können Nachhaltigkeits-Projekte im großen Stil realisiert werden?

Ein runder Tisch für die Stadt als Nachhaltigkeits-Projekt

Die Stadt selbst, richtig und menschengemäß verstanden, ist ja als solche schon immer ein „Nachhaltigkeits“-Wagnis an sich gewesen. Und diesem Wagnis, diesem ganz großen Drama des Menschlichen, wie Mumford schreibt, fehlt nur noch die eigentliche, die wirklich evidente Zukunftsvision eines inkludierenden Miteinander der Menschen – ohne Ansehen von Alter, Herkunft, Religion, Geschlecht und Hautfarbe. Wer die Stadt zu einem wahrhaft „wirtlichen“ Ort machen möchte, muss den Mut haben, eigentlich Selbstverständliches neu und anders zu denken. Gemeinsam mit anderen. Am besten an einem runden Tisch, der sich als Nachhaltigkeits-Gesprächsforum in jeder Stadt institutionalisieren ließe. Und zwar mit allen relevanten Gruppen und deren Repräsentanten. Aus Politik, Wirtschaft, Kirchen, Gesellschaft in Kombination mit Architekten, Stadtplanern, Entwicklern, Bauunternehmern, Investoren, Bauherren und, last not least, den Bewohnern und Nutzern der „nachhaltigen Stadt“. Dieser „Runde Tisch“ könnte der Garant dafür sein, dass der Urbanisierungsprozess nicht zuletzt in den Dienst der konkreten Nutzer gestellt wird. Und darauf kommt es an.

Ursprünglich veröffentlicht in Magazin Plan B 01/2018, von Martin C. Wolff

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