Konflikte erkennen

Meistens entdecken wir Konflikte und Elektrizität auf dieselbe Weise: Bei Kontakt bekommt man eine gescheuert. Weil dieses Entdeckungsverfahren auf Dauer unbekömmlich und ungesund ist, lohnt sich im Falle Strom die Anschaffung eines Spannungsmessers. Doch was ist das Äquivalent dazu bei Konflikten?

Um es gleich vorwegzunehmen: Jeder Mensch hat von Geburt an eine geniale Soft- und Hardware für Konflikte. Jedoch wurde den meisten Menschen im Laufe ihrer Biographie verboten, sie zu benutzen. Die Software gleicht einem Radar und heißt ‚Ein komisches Gefühl‘ und die Hardware sind die körperlichen Reaktionen wie Adrenalin, Stress, Atmung und mehr. Sie sind unsere Frühwarnsysteme für Konflikte: Wenn ich ein komisches Gefühl habe, das leise und diffuse Unbehagen, dass etwas nicht stimmt, dann hat mein Radar etwas registriert und erstattet Meldung. So, wie wir auch die Spannung und das Knistern in einer Starkstromleitung schon vor der Berührung spüren können. Die Hardware reagiert auf die Meldung mit Anspannung. Wenn ich merke, dass sich meine Muskeln anspannen, ich die Luft anhalte oder mich innerlich zurückziehe und gleichzeitig ein komisches Gefühl habe, dann ist vermutlich irgendeine Form von Konflikt präsent.

Leider schenkt man diesen zuverlässigen aber sanften Gefühlen nur selten Glauben: Es könnte ja sein, dass ich mir das nur einbilde, alle anderen sind schließlich auch entspannt. Es ist die Folge einer langen Sozialisation, dass wir Konflikte und Unstimmigkeiten bitte nicht ansprechen dürfen. Und worüber man nicht sprechen darf, sieht man mit der Zeit auch nicht mehr. So wird aus Lord Voldemort ein ‚You know who‘ und schließlich leugnet man, dass es ihn überhaupt gibt. Ganz so wie wir auch bei alltäglichen Übeln die Benennung vermeiden und dann ‚mal wohin müssen‘. Psychologisch heißt das Verdrängung.

Um also das eigene komische Gefühl mit sichtbaren Beweisen zu untermauern, ist dies der erste harte Hinweis: Die Existenz von Tabus, von Sprachverboten. Ein Tabu definiert sich dadurch, das dessen Aussprache Sanktionen hervorruft. Die Folge von Tabus ist eine künstliche Harmonie. Bricht jemand das Tabu, kollabiert auch die Harmonie und eine eben noch friedliche Sitzung eskaliert auf einmal. Im Familienkontext lässt sich das zu Weihnachten besonders gut studieren: Oma, warum darf Onkel P. eigentlich nicht mit uns feiern, wo Du doch jeden Sonntag mit ihm telefonierst?

Der zweite zuverlässige Hinweis sind Gefühlsausbrüche, am Deutlichsten sind Aufregung, Wut, Zorn und Aggression. Doch ebenso gilt das für Trauer, Betroffenheit oder Empörung. Diese Emotionen sind Eruptionen der darunter liegenden Konfliktmasse, gespeicherte Spannungen, die sich entladen. Die Entladungen sind sozial geprägt, so scheinen Frauen häufiger auf Betroffenheit, Kränkung oder Empörung zurückzugreifen, während Männer eher zu Aggression oder Wut neigen. Abstrakter gesprochen deutet vieles in unserer Kultur darauf hin, dass männliches Konfliktverhalten extrovertiert und weibliches Konfliktverhalten introvertiert ist.

Als dritten, subtileren Hinweis dient das Verhältnis von Struktur und Flexibilität. Künstliche Harmonie ist ein eingefrorener Konflikt und produziert starre Strukturen, feste Abläufe und bald minutiöse Vorgaben. Das beste Beispiel ist hier wohl das diplomatische Protokoll: Historisch betrachtet sind zwei Staaten erst einmal qua Existenz im Konflikt, erst die Einführung eines Protokolls erlaubt die Kommunikation jenseits des Schlachtfeldes. Jede Abweichung des vorgeschriebenen Ablaufs droht die Angelegenheit aufzutauen, den Konflikt aufzuheizen und ausbrechen zu lassen. Prinzipienreiterei und das fundamentale Pochen auf die Wahrung des Protokolls in scheinbar harmlosen Situationen, sowie die Abwesenheit von Flexibilität und Improvisation sind deutliche Indikatoren auf unsichtbare Konflikte.

Der beste Spannungsmesser für Konflikte bleibt aber das eigene Bauchgefühl. Ernstzunehmen, wenn man ein komisches Gefühl hat; das Unaussprechliche anzusprechen; Gefühlsausbrüche nicht zu übergehen und nachzufragen, wenn einem die Einhaltung des Protokolls zu strikt erscheint. Wer noch eine weiterführende Beschreibung sucht, der sei auf Patrick M. Lencioni’s Buch: „Five dysfunctions of a team“ hingewiesen.

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