Ein Unglück kommt selten allein

Ein Unglück kommt selten allein und auch Konflikte kommen gerne im Rudel. Schon die Tatsache, dass sich ein zweites Unglück oder ein zweiter Konflikt fröhlich dazugesellt, deutet eine Vielschichtigkeit an. Ein Unglück entsteht gerne dann, wenn wir gleichzeitig an zwei Dingen festhalten wollen, die sich ausschließen. Von Außen stellt sich das dann als Konflikt dar. Warum aber sind Unglücke und Konflikte so gesellig?
Auch hier wieder gibt es erst einmal eine ganz einfache Antwort: Sobald ein Konflikt ausbricht, schauen alle hin. Dieser Satz lässt sich wunderbarerweise auch umdrehen: Sobald alle hinschauen, bricht ein Konflikt aus. Das ist die gesamte Logik einer Öffentlichkeit. Und sobald alle hinschauen, sehen sie noch einiges mehr, als nur den ersten Ausbruch. Fast so, als ob jemand der gesund ist, einfach noch nicht lange genug untersucht wurde. Die meisten bemühen sich dann, möglichst rasch wieder zur Routine zurückzukehren: „Ach, so schlimm ist das ja gar nicht.“ oder „Das war sicher nur ein Missverständnis.“ Und schon geht der Trott weiter.

Manchmal sieht man jedoch Dinge, die das Wegsehen unmöglich erscheinen lassen. Ein qualitativer Sprung in der Wahrnehmung. In Köln scheint an Silvester 2015 genau das passiert zu sein: Man kann nicht mehr wegsehen und plötzlich scheint alles anders. Es offenbaren sich auf einmal die vielen verschachtelten Schichten eines Problems.

Ein Konflikt stört die Balance und stört das System. Er stört die Routine, weil all die feinen aufeinander abgestimmten Prozesse nicht mehr glatt laufen. Wie Sand im Getriebe, der die Materialschwäche weiterer Zahnräder aufdeckt. Anders ausgedrückt, vorher war schon ein weiteres Unglück da, man hat es nur nicht gesehen. Mehr noch ist es die Mischung mehrerer Unglücke, die der Angelegenheit ihren eigentlichen Drall gibt. Bleiben wir beim Beispiel von Silvester: Die massenhafte Nutzung von Sprengstoff, getarnt als Feuerwerkskörper in der Öffentlichkeit bei gleichzeitig steigender Alkoholisierung ist einfach keine gute Idee. Sie wird auch nicht besser, wenn man sie mit tausenden Anderen praktiziert, um sich dann gegenseitig mit dem Sprengstoff zu bewerfen. Da kommen merkwürdige Stimmungen auf. Die Problematik von Übergriffen auf Frauen bei öffentlich akzeptierten Massenbesäufnissen wie dem Karneval oder dem Oktoberfest sind bedauerlicherweise ein offenes Geheimnis.

So zusammengefasst, ist jeder 31. Dezember eines Jahres ein gefährlicher Ausnahmezustand. Aber da letztes Jahr ja auch alles gut gegangen ist, wird die Ausnahme zur Norm, zur Routine. Das ging bisher verhältnismäßig (die Betonung liegt auf mäßig) gut. Eben weil sich eine Routine eingestellt hatte. Weil sich alle auf diese Routine verlassen: Feiernde, Zuschauer, Polizei, Politik, Medien. Nun deutet vieles darauf hin, dass unsere Routine 2015 einige tiefgreifende Störungen erhalten hat. Entweder weil es einen neuen öffentlichen Frust gibt, wie es die Dresdener Protestmärsche andeuten. Oder weil viele neue Menschen im Land sind. Oder weil öffentliche Übergriffe auf Frauen nur Einheimischen erlaubt sind – die dann treffenderweise auch von „unseren Frauen“ sprechen. Oder alles zusammen.

Routine bedeutet, alles so zu lassen wie es ist, solange es noch irgendwie tragbar ist. Egal wie dämlich ein Meeting, wie dröge eine Präsentation oder wie niveaulos eine Videokonferenz auch ist, solange es niemand anspricht, gibt es keinen Grund die Ressourcen und Energie zu investieren und sich darum zu streiten. Wenn aber schon einmal für einen Streit mobilisiert wurde, dann kann man das ja mit ansprechen. Routine bedeutet reduzierte Komplexität, das Übersehen von Widersprüchen, Unglücken und Missständen zu Gunsten des reibungslosen großen Ganzen. Und Konflikte reduzieren ebenfalls die Komplexität, indem sie vielschichtige und verschachtelte Angelegenheiten auf eine emotionale Eruption reduzieren.

Das ist eine Falle. Sie verbirgt eben die Komplexität und die vielen Voraussetzungen eines Unglücks. Das aufzudröseln ist anstrengend. Sascha Lobo kommentierte äußerst treffend, dass eben hingeschaut und „nach den Strukturen und Narrativen gefragt werden“ muss. Und Konflikte sind nun einmal Grenzen, Sollbruchstellen, an denen die Routine aufbricht und das Komplexe sich in seine einzelnen Bestandteile zerlegt. Wenn diese Bestandteile selbst bereits für sich Sprengkraft haben – oder sogar Sprengstoff sind – sollte die explosive Wirkung wenig überraschen.

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