Auftakt. Kolumne: Unter Menschen

Unter dieser Überschrift werde ich mich in loser Folge mit dem gesunden Menschenverstand im weitesten Sinne auseinandersetzen: Wo ist er uns abhandengekommen, wo besitzen wir ihn noch und wo finden wir ihn unvermutet wieder.

Zum Auftakt ein mir besonders gegenwärtiges Beispiel: Die Art und Weise wie die moderne Medizin uns vergessen lässt, was das Menschsein ausmacht: Leben und Tod.

Zugegeben, nach dieser Definition unterscheiden wir uns nicht groß vom Basilikum auf dem Fensterbrett. Was ich damit meine, ist: Leben entsteht ohne das Zutun und ohne das Verständnis der Medizin, für den Tod gilt dasselbe. Und trotzdem benehmen sich die meisten Patienten und Ärzte, als hielten letztere das Schicksal in der Hand. Natürlich retten Ärzte Leben und eine Routine-Operation geht in 80-95% der Fälle gut. Das heißt aber auch umgekehrt, in 5-15% geht etwas schief. Selbst wenn mir Pessimismus vorgeworfen werden kann und es Operationen mit banalen 2% Restrisiko gibt. Auch 2% bleiben ein irreduzibler Rest bei dem bleibende Schäden oder der Tod eintreten – auch wenn der Arzt alles richtig gemacht hat. Vor diesem Rest wünsche ich mir mehr Demut und mehr Aufrichtigkeit mit sich selbst. 
Wenn jeder von uns im Ernstfall alles richtig macht und sein Bestes gibt – der GAU kann trotzdem eintreten. Machen wir Einiges falsch und sind mit den Gedanken eigentlich woanders – kann trotzdem alles gutgehen. Mein Schluss daraus ist kein Fatalismus – es ist nicht egal was wir tun. Sondern die Verpflichtung, alles zu geben, was der Situation angemessen ist, obwohl wir nie alle Faktoren kontrollieren können.

Vor kurzem las ich im NY-Times-Magazine einen Artikel, wie leicht das Essverhalten von Säuglingen durcheinander gerät. Dort wird von einem wenige Tage alten Säugling berichtet, der aufgrund einer Operation am offenen Herzen eine Magensonde bekommt und im Folgenden für anderthalb Jahre künstlich ernährt wird. Dabei geht aus meiner Sicht völlig das Augenmaß verloren. Die Autorin macht sich Vorwürfe, dass sie das Herzversagen ihrer neugeborenen Tochter nicht sofort bemerkt hat – was ich bei einer Erstgebärenden ohne medizinische Vorkenntnisse für völlig gewöhnlich halte. Allerdings hindern die unbegründeten Selbstvorwürfe die Eltern daran, nach der Herzoperation ihrer Tochter zur Normalität zurück zu kehren. Stattdessen setzen sie die Sondenernährung noch für anderthalb Jahre (!) fort. Die Mutter beschreibt die Prozedur wie folgt:

Every other Friday, I pinned her down and sang ‘‘You Are My Sunshine’’ while Dan threaded a new tube down to her stomach. When Violet screamed so hard that her throat closed, we would wait until she breathed again. When she choked and sputtered until the tube came out of her mouth, we would start all over…

Hier bleibe ich fassungslos zurück!

Mein Eindruck ist, dass jeder immer alles richtig machen will und dabei allem und jedem Gehör schenkt – nur die leise Stimme der Vernunft, die in uns allen wohnt, wird überhört. Ärzte sind auch nur Menschen, aber leider verkennen sie oft, dass sie durch Stichprobenverzerrung kein adäquates Menschenbild haben – sie kriegen die Gesunden einfach nie zu sehen. So befeuern sie eine Eskalationsspirale, die immer nur mehr Medizin und immer weniger Menschenverstand zum Ergebnis hat.

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert